Ingenieurseismologie

Die Grundlagen zur lokalen seismischen Gefährdungs- und Risikoanalyse werden im Fachbereich «Ingenieurseismologie» erarbeitet. Diese Grundlagen beinhalten Erdbebenkataloge für historische und instrumentelle Erdbeben, zuverlässige Bodenbewegungsmodelle, hochauflösende geophysikalische Modelle für die numerischen Simulationen von Erdbeben zur Interpretation historischer Beobachtungen und der Erdbebenaufzeichnungen an den seismischen Stationen. Die Ingenieurseismologie erarbeitet lokale Gefährdungskarten (Mikrozonierungen) und verknüpft die Ergebnisse mit Daten zur Gebäudeverletzbarkeit, um zuverlässige Risikostudien durchführen zu können. Besondere Berücksichtigung finden dabei erdbebeninduzierte Phänomene wie die Auslösung von Steinschlag, Erdrutschen, Bodenverflüssigung und Tsunamis in Seen.

Um die Grundlagen zu erarbeiten, ist die Sektion «Ingenieurseismologie» in vier Forschungsgruppen unterteilt, die zum Teil eigenständige aber oftmals auch gruppenübergreifende Fragestellungen bearbeiten. Leiter der Sektion ist Prof. Dr. Donat Fäh.

Diese Forschungsgruppe untersucht die Auswirkung der oberflächennahen geophysikalischen Eigenschaften und der topografischen Morphologie auf die Bodenbewegung bei Erdbeben. Der Forschungsbereich kombiniert daher empirische Beobachtungen lokaler seismischer Reaktionen mit geophysikalischen Messungen vor Ort und indirekten Informationen aus unterschiedlichen Wissensbereichen (wie geologischen Karten und digitalen Höhenmodellen). Die Strategien zur Untersuchung der Beziehung zwischen dem Ausbau eines Standortes und der lokalen Morphologie umfassen die kombinierte geologisch-geophysikalische Modellierung, statistische Analysen und maschinelle Lernverfahren.

Typische Anwendungen lokaler Standortausbaustudien bestehen in der Implementierung der Standortreaktionsschicht im Rahmen weiter gefasster Projekte zur Bewertung seismischer Risiken – dies geschieht in unterschiedlichem Ausmass, von der nationalen Ebene bis hin zu hochauflösenden lokalen Studien (z. B. Mikrozonierung). Andere Anwendungen beziehen sich auf die Integration der lokalen seismischen Reaktion in Erdbebenbaunormen.

Die Forschungsgruppe «Starkbebenseismologie und Standortcharakterisierung» entwickelt und verwendet neue Instrumente und Verfahren für Messungen zur Standortcharakterisierung in der Schweiz. Die Gruppe ist verantwortlich für die Erneuerung und Erweiterung des Schweizer Starkbebennetzes (SSMNet) bis 2021. Mittels geophysikalischer und geotechnischer Messungen werden die Eigenschaften des lokalen Untergrundes jeder neuen seismischen Station bestimmt, was es uns erlaubt, die Erdbebenaufzeichnungen der Stationen besser zu interpretieren.  Die Arbeiten der Gruppe tragen dazu bei, die Beurteilung der Erdbebengefährdung in der Schweiz zu verbessern.

Die Forschungsbereich «Modellierung der Erdbeben-Bodenbewegung» arbeitet an Methoden um die Wirkung von Erdbeben numerisch zu simulieren. Modellierungen von Erdbeben werden dort eingesetzt, wo Registrierungen fehlen, d. h. insbesondere für grosse Schadensbeben und für Standorte im Nahfeld seismischer Quellen. Hierfür können einerseits standortspezifische Bodenbewegungs-Abminderungsmodelle kalibriert werden. Andererseits können auch deterministische Modellierungen des Bruchvorgangs und der Wellenausbreitung für Szenario-Erdbeben verwendet werden. Unablässig hierfür ist eine genaue Einbeziehung der lokalen geologischen Eigenschaften. Die Aufzeichnungen an den seismischen Stationen werden verwendet, um die numerischen Modelle zu kalibrieren.

Nicht nur Erdbeben haben schadhafte Auswirkungen auf Gebäude und Infrastruktureinrichtungen, sondern diese können auch durch sekundäre erdbebeninduzierte Phänomene verursacht werden wie z. B. durch Bodenverflüssigung, Hangrutsche sowie durch Tsunamis in Seen aufgrund von unterseeischen Rutschungen. Dies ist der Schwerpunkt der Forschungsgruppe «Erdbebeninduzierte Phänomene». Ein Ziel besteht in der Charakterisierung solcher Phänomene für die seismische Gefährdungsanalyse sowie die frühzeitige Erkennung von Massenbewegungen aufgrund typischer seismischer Signale. Ein weiterer Aspekt bilden kurzfristige Erdbebenvorläufer, die durch Prozesse in der Erdkruste entstehen und elektromagnetische und geochemische Signale erzeugen können.

Die Forschungsgruppe «Historische und Paläoseismologie» analysiert Erdbeben aus der Zeit vor der Inbetriebnahme des modernen seismischen Netzwerks Mitte der 1970er Jahre. Die Erkenntnisse über frühere Erdbeben liefern wichtige Hinweise für die Erdbebenvorsorge und ermöglichen uns, die Beben zu lokalisieren und ihre Stärke abzuschätzen. In der Schweiz treten starke Schadensbeben relativ selten auf, daher sind instrumentelle Daten für Starkbeben noch nicht verfügbar. Wir müssen deshalb auf historische Dokumente zurückgreifen und mit geschichtswissenschaftlichen Methoden analysieren sowie mit paläoseismologischen Methoden die geologischen Spuren grosser Erdbeben interpretieren.