07.03.2023
Bisher war wenig darüber bekannt, welche Auswirkungen Erdbeben in der Schweiz auf Personen und Gebäude haben können. Im Auftrag des Bundesrates hat der Schweizerische Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU), dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), der EPFL und weiteren Partnern aus der Industrie das erste öffentlich zugängliche und bisher fundierteste Erdbebenrisikomodell für die Schweiz entwickelt. Das Modell schafft eine neue Grundlage für Bevölkerung, Behörden und Wirtschaft, um sich auf Erdbeben vorzubereiten und das nächste Schadensbeben besser zu bewältigen.
Statistisch gesehen erlebt jede Person in der Schweiz im Laufe ihres Lebens mindestens ein Erdbeben, das ernste Schäden verursacht. Damit gehören Erdbeben neben Pandemien und Strommangellagen zu den grössten Risiken der Schweiz. Im Vergleich zu anderen Naturgefahren treten sie zwar seltener auf, können aber bedeutsame Schäden verursachen. Das nun veröffentlichte Erdbebenrisikomodell der Schweiz erlaubt es erstmals, die zu erwartenden Schäden fundiert zu beziffern. Während die Erdbebengefährdung abschätzt, wie oft und wie stark die Erde an bestimmten Orten in Zukunft beben könnte, beschreibt das Erdbebenrisiko die Auswirkungen auf Personen und Gebäude. Im Erdbebenrisikomodell werden dazu detaillierte Informationen zur Erdbebengefährdung, zum Einfluss des lokalen Untergrunds, zur Verletzbarkeit von Gebäuden sowie zu den betroffenen Personen und Werten kombiniert.
Das grösste Erdbebenrisiko besteht gemäss dem neuen Modell in dieser Reihenfolge für die Städte Basel, Genf, Zürich, Luzern und Bern. Zwar unterscheidet sich die Erdbebengefährdung in diesen Regionen, aber wegen ihrer Grösse befinden sich in allen fünf Städten zahlreiche Personen und Werte, die bei einem Erdbeben betroffen wären. Zudem verfügen diese Städte über viele, teils besonders verletzliche Gebäude, die oft auf einem weichen Untergrund stehen, der Erdbebenwellen verstärkt.
Die meisten Gebäudeschäden infolge von Erdbeben sind in den Kantonen Bern, Wallis, Zürich, Waadt und Basel-Stadt zu erwarten. Auf sie entfallen rund die Hälfte der geschätzten finanziellen Verluste. Gemäss den Modellberechnungen ist zu erwarten, dass Erdbeben über einen Zeitraum von 100 Jahren allein an Gebäuden und ihren Inhalten wie Möbel einen wirtschaftlichen Schaden von 11 bis 44 Milliarden Schweizer Franken verursachen. Insgesamt würden etwa 150 bis 1’600 Personen ihr Leben verlieren und schätzungsweise 40’000 bis 175’000 kurz- bis langfristig obdachlos werden. Hinzu kommen Schäden an Infrastrukturen und Verluste durch weitere Folgen von Erdbeben wie Hangrutschungen, Feuer oder Betriebsunterbrüche. Diese sind allerdings noch nicht im Modell berücksichtigt. Das Erdbebenrisiko verteilt sich dabei nicht gleichmässig über die Zeit, sondern ist durch seltene, katastrophale Erdbeben dominiert, die meistens ohne Vorwarnung auftreten.
Neben Risikoeinschätzungen für gewisse Zeiträume und Orte kann der Erdbebendienst neu anhand des Erdbebenrisikomodells Szenarien erstellen. Damit lassen sich unter anderem die heute zu erwartenden Auswirkungen historischer Schadensbeben in der Schweiz veranschaulichen. Bei einer Wiederholung des Basler Bebens von 1356 mit einer Magnitude von 6.6 wäre in der Schweiz beispielsweise mit etwa 3’000 Toten und Gebäudeschäden im Umfang von ungefähr 45 Milliarden Schweizer Franken zu rechnen. Schwere Erdbeben können aber grundsätzlich überall auftreten. Der SED stellt deshalb für jeden Kantonshauptort und eine weitere Ortschaft ein Szenario für ein schadenbringendes Beben mit einer Magnitude 6 bereit. Ein solches Erdbeben ereignet sich durchschnittlich alle 50 bis 150 Jahre irgendwo in der Schweiz oder im grenznahen Ausland. Diese insgesamt 59 Szenarien sollen dazu beitragen, Behörden und Bevölkerung für die Auswirkungen von schadenbringenden Erdbeben in der Schweiz zu sensibilisieren.
Basierend auf dem Erdbebenrisikomodell wird der Erdbebendienst nach jedem Beben mit einer Magnitude von 3 oder grösser eine schnelle Schadensabschätzung veröffentlichen. Die schnelle Schadensabschätzung informiert die Bevölkerung und Einsatzkräfte bei weiträumig spürbaren oder schadenbringenden Beben über die zu erwartenden Folgen. Vereinzelte Schäden sind nahe dem Epizentrum etwa ab einer Magnitude von 4 möglich. Weiter lassen sich die Risiken für Gebäudeportfolios bestimmen oder detaillierte Szenarien für Städte und Agglomerationen erstellen. Als eines der ersten Länder weltweit verfügt die Schweiz damit über eine frei zugängliche Grundlage, um fundierte Entscheide im Bereich Erdbebenvorsorge und Ereignisbewältigung zu treffen.
Bei der Entwicklung des Erdbebenrisikomodells der Schweiz wurde ein Schwerpunkt auf die Aufbereitung der Datengrundlagen gelegt. Über drei Millionen einzelne Erdbeben wurden simuliert, die sich in der Schweiz und dem grenznahen Ausland ereignen könnten. Die mehr als zwei Millionen Wohn-, Geschäfts- und Industriegebäude in der Schweiz wurden nach bestimmten Kriterien in Verletzbarkeitskategorien eingeteilt, um die möglichen Schäden infolge von Erdbeben modellieren zu können. Darüber hinaus liefern verbesserte Datengrundlagen zu den Verstärkungseffekten des Untergrunds ein deutlich besseres Bild der lokalen Auswirkungen. Trotz verbesserter Daten sind Abweichungen von den tatsächlichen Folgen aufgrund der Modellunsicherheiten zu erwarten. Um diese Unsicherheiten zu verkleinern und damit die Modellaussagen zu verbessern, wird das Erdbebenrisikomodell in den nächsten Jahren weiterentwickelt.
Das Erdbebenrisikomodell ist Teil des Massnahmenprogramms des Bundes zur Erdbebenvorsorge, welches das BAFU koordiniert. Es hat zum Ziel, ein umfassendes Erdbebenrisikomanagement auf Bundesebene sicherzustellen. Somit tragen die Erkenntnisse aus dem Erdbebenrisikomodell zur nationalen Risikoanalyse und zu den Vorsorgeplanungen auf Stufe Bund und Kantone bei. Diese schaffen eine gemeinsame Grundlage, wie Behörden, Bevölkerung und Wirtschaft die Auswirkungen eines Schadenbebens bewältigen und die zerstörten oder beschädigten Bauten und Infrastrukturen wieder instand setzen können. Zudem dient das nationale Erdbebenrisikomodell der sich im Aufbau befindenden Schadenorganisation Erdbeben (SOE) als wichtiges Element für die Planung und Durchführung ihrer Arbeit. Die SOE wird nach einem Erdbeben die zu erwartenden Kosten aufgrund von Gebäudeschäden abschätzen, damit rasch mit dem Wiederaufbau gestartet werden kann.
Dokumente zum Download:
Karte Erdbebenrisiko Schweiz in hoher Auflösung
Erdbebenrisiko in einem Video erklärt
technischer Bericht (auf Englisch, PDF)
05.03.2023
Am Samstag, dem 04. März 2023 hat sich um 23:32 Uhr (Ortszeit) 3 km westlich von Rossens (FR), südwestlich von Fribourg, in einer ungefähren Tiefe von 4 km ein Erdbeben der Magnitude 2.7 ereignet.
Beim Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH Zürich sind vorwiegend Verspürtmeldungen aus Farvagny und der näheren Umgebung eingegangen. Innerhalb der ersten Stunde nach dem Erdbeben sind 50 Verspürtmeldungen eingetroffen. Bei einem Erdbeben dieser Stärke sind in der Regel keine Schäden zu erwarten.
Das letzte spürbare Beben im Gebiet um Rossens wurden am 19. August 2009 mit einer Magnitude von 2.6 in einer Tiefe von 6 km registriert. In dieser Region kommt es immer wieder zu Erdbeben, die im Zusammenhang mit einer grob Nord-Süd verlaufenden Verwerfungszone stehen. Die meisten Erdbeben ereignen sich dabei an der Grenze zwischen dem kristallinen Untergrund und den Sedimenten des Molassebeckens.
01.03.2023
In der Nähe von Tiefencastel (GR), wurde am Mittwoch, 1. März 2023 um 22:02 Uhr (Lokalzeit) ein Erdbeben der Stärke 2.6 in einer Tiefe von etwa 6 Kilometern gemessen.
Beim Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH Zürich sind vorwiegend Verspürtmeldungen aus Alvaneu (GR) und der näheren Umgebung eingegangen. Innerhalb einer Stunde gab es 60 Verspürtmeldungen. Bei den meisten Verspürtmeldungen berichteten die Menschen von einem leichten Schütteln und dass sie überrascht waren. Es gingen zudem vereinzelt Berichte über Knallgeräusche ein. Solche Geräusche entstehen, wenn Erdbebenwellen an die Oberfläche treffen und sind eine häufige Begleiterscheinung von Erdbeben. Die Schwingungen des Bodens werden in die Luft übertragen und erzeugen Schallwellen. Bei einem Erdbeben dieser Stärke sind in der Regel keine Schäden zu erwarten.
10.02.2023
Im Nachgang an die zerstörerischen Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet stellt sich immer wieder die Frage, welche Auswirkungen vergleichbare Erschütterungen in der Schweiz haben könnten. Basierend auf vorläufigen Ergebnissen des Erdbebenrisikomodells der Schweiz, das am 7. März 2023 veröffentlicht wird, hat der Schweizerische Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich zwei Szenarien berechnet: ein nicht zu erwartendes Beben mit einer Magnitude von 7.8 und eine Wiederholung des Bebens von 1356 mit einer Magnitude von 6.6. bei Basel. Mit einem ähnlich starken Beben in der Region Basel ist alle ist 2'000 bis 2'500 Jahre zu rechnen. Grössere Beben bis zu einer Magnitude von ungefähr 7 gelten in der Schweiz aufgrund der tektonischen Verhältnisse als möglich. Ein solches Beben an einem beliebigen Ort in der Schweiz hat eine jährliche Eintretenswahrscheinlichkeit von etwa 0.1 Prozent. Ein Beben mit einer Stärke von 7.8 ist im Unterschied dazu nicht zu erwarten. Aufgrund der logarithmischen Magnitudenskala wäre ein solches Beben rund 63 mal stärker als ein Magnitude 6.6 Beben, was sich auf das Schadensbild auswirkt.
Bei beiden Szenarien wäre die gesamte Fläche der Schweiz stark von den Auswirkungen des Bebens betroffen. In den jeweiligen Epizentralgebieten wäre mit grossflächiger Zerstörung zu rechnen. In den am stärksten betroffenen Kantonen würden bis zu 70 Prozent der Gebäude mässige bis zerstörerische Schäden aufweisen. Schweizweit würden beim Basel Szenario rund 77'000 Gebäude derartige Schäden aufweisen. Infolge wären ungefähr 3'000 Todesopfer zu beklagen und mit Gebäudeschäden im Umfang von ungefähr 45 Milliarden Schweizer Franken zu rechnen. Weitere Kosten entständen durch Betriebsunterbrüche oder Schäden an Infrastrukturen, diese sind aktuell noch nicht modelliert. Für das nicht zu erwartende Szenario mit einer Magnitude von 7.8 müsste von mehr als 15’000 Todesopfern und Schäden in der Grössenordnung von 250 Milliarden Schweizer Franken ausgegangen werden. Die Auswirkungen eines Magnitude-7.8-Bebens sind insbesondere deshalb grösser, weil ein solches Beben eine Verwerfung von 150 bis 200 km Länge aktiviert, wogegen ein Erdbeben der Magnitude 6.6 nur eine Verwerfung von etwa 30 bis 40 Kilometern Länge betrifft.
Das Erdbebenrisikomodell der Schweiz erarbeitet der Schweizerische Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU), dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), der EPFL und weiteren Partnern aus der Industrie. Das ab dem 7. März 2023 öffentlich zugängliche Erdbebenrisikomodell der Schweiz wird es erstmals erlauben, die zu erwartenden Schäden fundiert zu beziffern. Das Modell schafft damit eine neue Grundlage für Bevölkerung, Behörden und Wirtschaft, um sich auf Erdbeben vorzubereiten und das nächste Schadensbeben besser zu bewältigen.
Die Erdbeben in der Türkei vom 6. Februar 2023 mit den Magnituden 7.8 und 7.5 sind verheerende Ereignisse, die das Leben von Millionen von Menschen in der Türkei und in Syrien massiv beeinträchtigen. Der Erdbebenherd des Gaziantep-Erdbebens (Magnitude 7.8) befand sich 18 Kilometer unter der Erdoberfläche und rund 9 Kilometer östlich von Sakçagözü. Der Erdbebenherd des zweiten Erdbebens (Kahramanmaraş-Erdbeben, Magnitude 7.5) befand sich in einer Tiefe von 10 Kilometern und ungefähr 100 Kilometer nördlich des ersten schweren Bebens auf einer zweiten Verwerfung. Die Millionenstadt Gaziantep in der Türkei liegt in unmittelbarer Nähe des Epizentrums des Gaziantep-Erdbebens und Aleppo in Syrien ist nur 100 km entfernt. Weitere zehn Grossstädte liegen direkt an der Verwerfungszone.
Die Erdbeben ereigneten sich aufgrund der Bewegung der tektonischen Platten. Die Region, in der die Erdbeben stattfinden, wird als "Triple Junction" bezeichnet, in deren Untergrund drei verschiedene Platten aufeinandertreffen: die Anatolische, die Arabische und die Afrikanische. Das Gaziantep-Erdbeben ereignete sich nach bisherigem Stand aufgrund der Bewegung des südlichen Teils der Ostanatolischen Verwerfungszone (siehe Abbildung 1). Diese Verwerfungszone verläuft im Südosten der Türkei und ist für viele der in der Region auftretenden Erdbeben verantwortlich. Über die Zeit bauten sich im Untergrund gewaltige Spannungen in der Verwerfungszone auf, die sich ruckartig freisetzten und damit die Bodenbewegungen auslösten, die zu verheerenden Schäden in der Region führten. Die Auswirkungen waren aber nicht nur lokal feststellbar, sogar in Zypern, 400 Kilometer vom Epizentrum des Gaziantep-Erdbebens entfernt, wurde noch eine dynamische Verschiebung von etwa 20 cm mit GPS gemessen (GPS: Globales Positionsbestimmungssystem).
Nach vorläufigen Berechnungen des United States Geological Survey (USGS) hat sich beim Gaziantep-Erdbeben ein grosser Abschnitt der Verwerfung auf einer vertikalen Fläche von ca. 220 x 30 km, was ungefähr der Fläche des Kantons Graubünden entspricht, rund 3.4 m weit verschoben. Das zweite Erdbeben mit einer Magnitude 7.5 hatte eine Bruchfläche von 40 x 20 km Fläche (vergleichbar mit der Grösse des Kantons Jura) und rutschte ca. 10 m. Mit weiteren Daten, die in den kommenden Tagen zur Verfügung stehen werden, werden diese Angaben zur Grösse und Bewegung der Bruchflächen weiter spezifiziert und können sich daher erwartungsgemäss noch massgeblich verändern.
Die Erdbeben brachten zahlreiche Gebäude zum Einsturz. In der Stadt Kahramanmaras sind beispielsweise geschätzte 16’000 Gebäude beschädigt worden (Report 6.2.23, Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute). Dies ist nicht nur auf die Stärke der Erschütterungen zurückzuführen, sondern auch auf eine unzureichende Bauweise. Obwohl die Türkei nach dem Erdbeben in İzmit 1999 ihre Baunormen überarbeitet hat, gibt es nach wie vor viele ältere Gebäude, die zuvor erstellt worden sind und somit eine unbekannte und oft ungenügende Erdbebensicherheit aufweisen. Die Ausgangslage ist in vielen Ländern ähnlich und trifft auch auf die Schweiz zu, da die Erneuerung der Bausubstanz in der Regel langsam vorangeht und die Ertüchtigung bestehender Gebäude sehr aufwendig sein kann. In türkischen Grossstädten wird zudem das Erdgeschoss oft als offene Ladenfläche mit wenigen Stützwänden gebaut. Solche wären aber für die Stabilität extrem wichtig. Ohne diese Stützwände kann das Erdgeschoss bei starker Bodenbewegung kollabieren und somit das gesamte Gebäude zum Einstürzen bringen.
Die Erdbeben verursachten zusätzlich weit verbreitete Stromausfälle und Kommunikationsstörungen, was es für Rettungs- und Aufräumteams schwierig machte, die betroffenen Gebiete zu erreichen und die Hilfsmassnahmen zu koordinieren. Gemäss Angaben des USGS ist zudem zu erwarten, dass aufgrund der Erschütterungen grosse Gebiete von Erdrutschen und Bodenverflüssigungen betroffen sind. Aufgrund von Bodenverflüssigungen verliert der Untergrund seine Festigkeit, was wie bei Erdrutschen zu zusätzlichen Schäden an Gebäuden, Strassen oder Infrastrukturen führt.
Die Region war in der Vergangenheit von mehreren starken Erdbeben betroffen. Das letzte vergleichbar starke Beben in der Region ereignete sich 1939 bei Erzincan auf der Nordanatolischen Verwerfung und hatte eine Magnitude von 7.8. Es war eines der schwersten Beben in der Türkei im 20. Jahrhundert und verursachte schwere Schäden in einigen Städten und Dörfern. Unmittelbar vor den zwei aktuellen Erdbeben in der Südtürkei lag die jährliche Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben mit einer Magnitude grösser als 7.7 in dieser Region bei 0.13% und für ein Erdbeben mit einer Magnitude grösser als 7.4 bei 0.25% (Danciu et al., 2021). Diese Wahrscheinlichkeit ist im europäischen Vergleich eher hoch, wie aus Abbildung 2 zu erkennen ist: die betroffene Region liegt im violett eingefärbten Bereich. Das Auftreten starker Erdbeben wie derjenigen des 6. Februar ist daher nicht unerwartet. Regionen mit tieferer Gefährdungsstufe sind in Abbildung 2 gelb eingefärbt.
Nach einem grossen Erdbeben treten typischerweise weitere Erdbeben auf. Es ist dabei nicht auszuschliessen, dass weitere Beben von ähnlicher oder sogar grösserer Magnitude auftreten. Die meisten Nachbeben geschehen innerhalb weniger Minuten oder Stunden nach dem grössten Beben. Weitere Nachbeben können über Wochen bis Monate oder sogar Jahre eintreten, ihre Anzahl nimmt aber mit der Zeit tendenziell ab. Dieses Muster ist auch bei der aktuellen Sequenz klar zu erkennen, wie die grauen Balken in Abbildung 3 zeigen. Die erwartete Anzahl Erdbeben pro Tag liegt nach einer Woche bereits ca. 95%-97% tiefer als noch am ersten Tag. Dennoch kann es in seltenen Fällen erneut zu grossen Beben kommen.
(aktualisiert) Am Montag, den 6. Februar 2023 um 02:17 Uhr Schweizer Zeit hat sich in der Nähe der Stadt Gaziantep in der südlichen Zentraltürkei, rund 50 km nördlich der syrischen Grenze, ein Erdbeben der Magnitude 7.8 ereignet. Dem Hauptbeben folgten bisher dutzende Nachbeben, die ebenfalls die Schadensschwelle erreichten. Darunter ein Beben der Magnitude 6.7, das sich 11 Minuten später ca. 30 km nördlich des Hauptbebens ereignete sowie ein Beben der Magnitude 7.5, welches am selben Tag um 11:47 Uhr auftrat. Nach ersten Erkenntnissen fand dieses starke Nachbeben auf der nach Westen abzweigenden Surgu-Verwerfung statt. Es vergrösserte den Schadensperimeter der Erdbebensequenz deutlich nach Nordwesten. Die Nachbeben-Tätigkeit wird – typischerweise mit abnehmender Intensität – voraussichtlich noch Wochen oder Monate anhalten, wobei auch mit weiteren Beben über der Schadensschwelle gerechnet werden muss. Es ist zudem nicht auszuschliessen, dass sich ein noch stärkeres Beben als das Hauptbeben ereignet, die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch sehr klein.
Die schweren Beben waren von Israel bis Kroatien spürbar und haben in einer Region von etwa 400 auf 300 km zu schweren Schäden geführt. Bis Dienstagmittag waren bereits über 5’000 Todesopfer und 25‘000 Verletzte bekannt, davon etwa zwei Drittel in der Türkei und ein Drittel in Syrien. Diese Zahlen werden voraussichtlich noch weiter ansteigen.
Das Magnitude 7.8 Erdbeben hat in einer seismisch aktiven Region stattgefunden, in der sich die Anatolische, Arabische und Afrikanische Platte treffen. Nach bisherigen Erkenntnissen lag das Beben auf der vom Golf von Iskenderun in Richtung Nordosten verlaufenden Ostanatolischen Störung. Ein Beben dieser Grösse versetzt die Erdplatten entlang einer Verwerfung von 180 bis 200 km Länge um mehrere Meter. Der gesamte Bruchvorgang dauerte 30 bis 40 Sekunden, was eine Bruch-Fortpflanzungsgeschwindigkeit weit über Schallgeschwindigkeit ergibt. Die Bruchfläche reichte dabei von einer Tiefe von rund 20 km bis an die Erdoberfläche. Das Beben von letzter Nacht ist eines der stärksten bekannten Beben in der Region. Die bisher grössten historischen Beben mit Magnituden von ungefähr 7 haben in den Jahren 1138 und 1822 die Stadt Aleppo in Syrien komplett verwüstet. Das Beben von 1822 forderte einige zehntausend Todesopfer. Seit 1970 blieb es in der Region verhältnismässig ruhig mit nur drei Beben mit Magnituden von 6 oder mehr. Das grösste davon erschütterte die Region am 24. Januar 2020 mit einer Magnitude von 6.7.
Die ersten Wellen (P-Wellen) der Beben in der Südosttürkei trafen mit einer Verzögerung von gut 5 Minuten in der Schweiz ein, die stärkeren, aber langsameren Oberflächenwellen legten die 2’700 km in etwa einer Viertelstunde zurück. Beim Hauptbeben von Montagnacht wurde die Erdoberfläche in der Schweiz um bis zu einem Zentimeter vertikal ausgelenkt – vergleichbar mit den Bodenbewegungen, die hierzulande nach dem Magnitude 9.2 Beben von Tohoku (Japan) im Jahr 2011 registriert wurden. Allerdings treffen in so grossem Abstand vom Erdbebenherd nur noch langperiodische Wellen ein: Das heisst, die Bodenoberfläche bewegt sich innerhalb von etwa zwei Minuten erst einen Zentimeter nach oben und dann wieder nach unten. Das ist mit geeigneten Seismometern deutlich messbar und kann zur Lokalisierung des Erdbebens wie auch zur Magnitudenbestimmung verwendet werden. Für uns Menschen sind diese Wellen aber weder spürbar noch haben sie irgendwelche Schadensfolgen.
01.02.2023
Der Schweizerische Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich zeichnete vergangenes Jahr rund 900 Erdbeben auf. Geprägt war die Erdbebenaktivität insbesondere durch Ereignisse im grenznahen Ausland wie dem Beben von Sierentz (F). Mit einer Magnitude von 4.7 handelt es sich um das fünfstärkste Beben im Aufzeichnungsgebiet, das sich seit Einführung moderner Messverfahren im Jahr 1975 ereignete. Die Bevölkerung nahm die Erschütterungen weiträumig wahr. Ebenfalls deutlich zu spüren waren Beben, die sich nahe Albstadt (D), Chamonix (F), Triesenberg (FL) sowie in der Haute-Ajoie (JU) ereigneten.
Mit rund 900 Erdbeben liegt die Zahl der aufgezeichneten Ereignisse etwas tiefer als in den letzten Jahren. 28 dieser Beben, und damit etwas mehr als im langjährigen Durchschnitt, wiesen eine Magnitude von 2.5 oder mehr auf. Sie liegen damit in einem Bereich, in dem sie wahrscheinlich für die Bevölkerung spürbar sind. Im Unterschied zu anderen Jahren trat 2022 keine bebenreiche Sequenz auf, was ein wesentlicher Grund für die etwas tiefere Anzahl Beben im Jahr 2022 ist. Solche Schwankungen in der Erdbebenaktivität sind üblich und lassen keine Schlüsse auf die künftige Entwicklung zu.
Mit dem Beben im Elsass bei Sierentz (F) am 10. September 2022 wurde das fünftstärkste Ereignis seit Beginn der modernen instrumentellen Erdbebenaufzeichnung im Jahr 1975 aufgezeichnet, das in der Schweiz oder im nahen Ausland auftrat. Es wies eine Magnitude von 4.7 auf und wurde in weiten Teilen der Schweiz verspürt. Beim SED gingen 11'000 Verspürtmeldungen aus der Bevölkerung ein – aktuell der Rekordwert. Es teilt sich den fünften Rang mit einem Beben gleicher Magnitude, das sich im Jahr 1992 nahe Vaduz (FL) ereignete. Die grössten Beben seit 1975 in der Schweiz und im grenznahen Ausland ereigneten sich 1996 bei Annecy (F) und 1999 bei Bormio (I) beide mit einer Magnitude von 5.1. An zweiter Stelle folgt das letzte Schadensbeben mit Epizentrum in der Schweiz, welches 1991 bei Vaz (GR) mit einer Magnitude von 5.0 auftrat, gefolgt von einem Beben bei Vallorcine (F) (2005, Magnitude 4.9) und einem bei Besançon (F) (2004, Magnitude 4.8).
Das Beben bei Sierentz (F) steht in Zusammenhang mit einer bekannten, seismisch aktiven tektonischen Struktur: dem Rheingraben. Dieser erstreckt sich von der Region Basel zwischen Schwarzwald und Vogesen Richtung Norden. Erdbeben sind in dieser Region nichts Aussergewöhnliches, dennoch tritt nur etwa alle zehn bis zwanzig Jahre ein ähnlich starkes Beben auf wie das vom September letzten Jahres. Historisch sind für dieses Gebiet auch grosse Schadensbeben dokumentiert wie jenes bei Basel 1356 mit einer Magnitude von 6.6. Während es in den darauffolgenden Jahrhunderten ungefähr alle fünfzig bis hundert Jahre zu einem Schadensbeben kam, ereigneten sich ab dem Jahr 1650 nur noch wenige grössere Beben. Anhand von historischen Belegen sowie paläoseismologischen Untersuchungen muss in der Region jedoch alle 2'000 bis 2'500 Jahre mit einem ähnlich starken Beben wie im Jahr 1356 gerechnet werden.
Das Epizentrum des zweitgrössten Bebens im Jahr 2022 lag bei Triesenberg (FL). Mit einer Magnitude von 3.9 war es nicht nur im gesamten Fürstentum Liechtenstein, sondern auch in der Schweiz bis nach St. Gallen und Chur deutlich spürbar. Von den über 700 Verspürtmeldungen gingen zudem einzelne aus den Regionen Schaffhausen, Zürich und Luzern ein. Das Beben ereignete sich nahe der Erdoberfläche und wurde daher direkt beim Epizentrum ziemlich heftig, in grösserem Abstand aber verhältnismässig schwach wahrgenommen. Etwa 20 Sekunden vor dem Hauptbeben am 1. September gab es ein Vorbeben der Stärke 2.1, das ebenfalls in der Nähe des Epizentrum deutlich zu spüren war. Im Anschluss traten zahlreiche, teils spürbare Nachbeben auf. Das grösste davon mit einer Magnitude von 3.1 ereignete sich am 14. Oktober. Ähnlich wie der Rheingraben gehört das St. Galler Rheintal zu den Gebieten mit erhöhter Erdbebengefährdung in der Schweiz. In den grenznahen Schweizer Gebieten ebenfalls deutlich wahrnehmbar waren ein Beben vom 9. Juli mit einer Magnitude von 4.2 nahe Albstadt (D) sowie eines bei Chamonix (F) mit einer Magnitude von 3.7, das sich am 25. September ereignete.
Neben diesen Beben im grenznahen Ausland wurde ein Nachbeben der Erdbebensequenz in der Haute-Ajoie (JU), die Ende 2021 ihren Anfang nahm, mit einer Magnitude von 3.1 insbesondere im Jura deutlich verspürt. Darüber hinaus gingen für ein Beben der Magnitude von 1.6 bei Monthey (VS) am 25. Oktober ungewöhnlich viele Verspürtmeldungen ein. Personen können ein Erdbeben dieser Stärke normalerweise nicht verspüren. Die Ursache für die deutliche Wahrnehmung dieses Bebens ist zum einen der Zeitpunkt am späteren Abend sowie seine geringe Herdtiefe von ungefähr einem Kilometer unter der Erdoberfläche.
Von den fünf grössten Beben seit Bestehen des instrumentellen Messnetzes richtete glücklicherweise nur jenes bei Vaz (GR) in der Schweiz kleinere Schäden an. Schadenbringende Beben sind somit selten, werden aber auch in Zukunft auftreten. Bisher ist wenig darüber bekannt, welche Auswirkungen Beben auf Menschen und Gebäude heute haben könnten. Diese lassen sich künftig mithilfe des ersten öffentlich zugänglichen und bisher fundiertesten Erdbebenrisikomodells für die Schweiz abschätzen. Das vom SED in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU), dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), der EPFL und weiteren Partnern aus der Industrie entwickelte Modell wird am 7. März 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt.